"Klimaneutralität gibt es nur, wenn wir auf die erneuerbaren Energien setzen."
Die Windenergiebranche hat schwere Zeiten hinter sich. Wenn jemand jetzt trotzdem von „fantastischen Perspektiven“ spricht, muss er über reichlich Erfahrung und einen gesunden Optimismus verfügen. Ganz so wie Jürgen Zeschky, seit 1. Januar 2022 Geschäftsführer beim Auricher Windturbinenhersteller ENERCON.
Das Leben als Ruheständler könnte so schön sein. Heute ein gutes Buch lesen. Demnächst vielleicht auf eine ausgedehnte Motorradtour gehen. Oder doch mal den Segelflugschein machen und die Welt aus der Vogelperspektive betrachten. Stattdessen sitzt Jürgen Zeschky in einem schmucken Büro am Stadtrand von Aurich und arbeitet an der Zukunft von ENERCON. Keine Spur von Ruhestand.
Der Traum dauerte nur acht Tage. „Ich hatte mich gerade erst von meinem Posten als CEO der Hoerbiger Holding in der Schweiz zurückgezogen, als mich am neunten Tag ein Anruf aus Ostfriesland erreichte“, erinnert sich der 1960 in Nordrhein-Westfalen geborene Manager. Am Telefon: Heiko Janssen, Vorstandsvorsitzender der Aloys-Wobben-Stiftung. Die 2012 von Windenergie-Pionier Aloys Wobben in Aurich gegründete Stiftung ist alleinige Eigentümerin des Turbinenherstellers.
Hoffnungsträger für eine ganze Region
ENERCON ist nicht irgendwer in Ostfriesland, sondern eine Institution mit Ausstrahlung weit über die Grenzen der Region hinaus. Als größter deutscher Hersteller (Marktanteil: über 35 Prozent) konnte das Unternehmen seit seiner Gründung allein bis Ende 2021 landesweit rund 13.500 Windenergieanlagen mit einer Gesamtleistung von mehr als 25 Gigawatt installieren. Mit seinen Innovationen setzt ENERCON seit bald 40 Jahren auch international Maßstäbe und bietet im gesamten Konzern über 13.000 Beschäftigten einen Arbeitsplatz.
Aber Aloys Wobben hat mit seinem Lebenswerk viel mehr geschaffen als ein florierendes Unternehmen von internationalem Renommee. Seit Jahrzehnten ist ENERCON auch ein Hoffnungsträger für die wirtschaftliche Entwicklung der nach wie vor als eher strukturschwach geltenden
Region – und darüber hinaus zusätzlich von hoher Symbolik für die Energieerzeugung der Zukunft.
Wenn die Politiker den Stellenwert des „Energielands Niedersachsen“ für die bundesweite Versorgung betonen, dann haben die meisten von ihnen große, im ganzen Bundesland errichtete Windparks vor Augen. Tatsächlich standen Ende März 2022 nach Angaben der gemeinnützigen Fachagentur „Windenergie an Land“ 6.106 der 28.204 bundesweit betriebenen Windräder zwischen Nordseeküste und Harz. Auch bei der Kapazität führt Niedersachsen die Rangliste an. 11.661 von 56.200 Megawatt wurden hier installiert. Die anderen Bundesländer folgen mit einigem Abstand.
Geschäftsführer-Casting am Telefon
Zurück zu Heiko Janssen. Der Vorstandschef der Aloys-Wobben-Stiftung befand sich im Herbst 2021 auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger für seinen Namensvetter und ENERCON-CEO Momme Janssen. Der hatte kurz zuvor überraschend angekündigt, das Unternehmen zum Ende des Jahres aus persönlichen Gründen verlassen zu wollen.
Dass Jürgen Zeschky auf der Kandidatenliste weit oben stand, verwundert angesichts seiner Karrierestationen nicht. Der promovierte Maschinenbauer hatte seine berufliche Laufbahn beim Druckluftspezialisten Mannesmann Demag begonnen, war anschließend für eine Siemens-Tochter im amerikanischen New Jersey tätig gewesen und im Oktober 2004 zum Maschinenhersteller Voith Turbo gegangen, bei dem er schon ein Vierteljahr später die Geschäftsführung übernahm.
„Ich hatte einfach Glück, weil ich in all den Jahren auf Menschen gestoßen bin, die mir Vertrauen entgegengebracht haben“, sagt Zeschky rückblickend. Und das Glück war noch nicht aufgebraucht. Ab März 2012 machte er als CEO beim Hamburger Anlagenhersteller Nordex erste Bekanntschaft mit der Windenergieindustrie, verließ das Unternehmen Ende Mai 2015 aber wieder. Auf eine siebenmonatige Pause folgte zum 1. Januar 2016 der Einstieg bei der in der Schweiz ansässigen Hoerbiger Holding, wo er Mitte des Jahres zum neuen Geschäftsführer und Vorsitzenden der Konzernleitung ernannt wurde.
Aus den Schweizer Bergen an die Norseeküste
Um es kurz zu machen: Heiko Janssen kommt in seinem Telefonat ein entscheidendes Stück weiter. Und nach kurzer Beratschlagung mit der Familie entschließt sich Jürgen Zeschky – Ruhestand hin, Ruhestand her –, „das Abenteuer Ostfriesland in Angriff zu nehmen“. Angenehmer Nebeneffekt: die Nähe zu den in Hamburg lebenden Kindern und Enkeln.
Am 12. November 2021 geht die Meldung vom erfolgreich abgeschlossenen Chef-Casting über die Nachrichtenticker. In seiner Stellungnahme bezeichnet Janssen Zeschky als „versierten Branchenkenner mit ausgewiesener technischer Expertise und langjähriger internationaler Management-
Erfahrung“. Als genau den Richtigen für die ambitionierten Aufgaben der kommenden Jahre also: „Er wird die Neuausrichtung des Unternehmens mit unveränderter Zielsetzung und Priorität fortsetzen und zusammen mit der ENERCON-Mannschaft zum Erfolg führen.“ Keine Frage: Die Messlatte liegt hoch.
Zeschky verzichtet auf eine lange Anlaufzeit. Er stürzt sich sofort in die Arbeit. Um in den laufenden Prozessen Kontinuität zu gewährleisten, beginnt er gemeinsam mit seinem Vorgänger schon Wochen vor dem offiziellen
Amtsantritt zum Jahresanfang, die Dinge zu ordnen, Perspektiven auszuloten und die Voraussetzungen für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu schaffen.
Das ist zweifellos notwendig, denn der neue Steuermann übernimmt das Ruder in Aurich in einer für die Branche komplizierten Situation. Nachdem es jahrelang bergauf gegangen war, folgte 2018 das jähe Ende des Booms. Waren 2017 in Deutschland noch Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 6,6 Gigawatt gebaut worden, waren es im Jahr darauf nur noch knapp die Hälfte. Die damals regierende Große Koalition hatte das Fördersystem beim Ausbau der erneuerbaren Energien geändert, um die Ausgaben für die Energiewende zu deckeln und die großen Versorgungskonzerne zu schützen. Fortan musste der Bau neuer Anlagen bundesweit ausgeschrieben werden.
Fantastische Perspektiven in Aussicht
Ein weiterer Faktor sind die Kosten. Die Produktion der Anlagenteile ist in Deutschland im Weltvergleich (zu) teuer. Zeschky weiß: „Darum müssen wir uns kümmern.“ Wir – das heißt in diesem Fall die Branche im Allgemeinen und ENERCON im Speziellen. Der Manager spricht zudem ein Kernproblem an: „Die Risiken in der Branche waren bislang vollkommen ungleich verteilt, die Hersteller trugen sie fast allein.“ Das habe so lange kaum gestört, wie die Gefahren kalkulierbar blieben. „Aber was, wenn der Stahlpreis sich verdoppelt oder die Logistik nicht mehr funktioniert?“ Dann guckt ein Unternehmen wie ENERCON buchstäblich
in die Röhre.
Mit all seiner Erfahrung bleibt Jürgen Zeschky dennoch zuversichtlich. Auf der Weltleitmesse WindEnergy in Hamburg spricht er im Sommer 2022 sogar von „fantastischen Perspektiven“ für die Branche. Sein Optimismus speist sich in erster Linie aus dem Ziel der Klimaneutralität: „Wollen wir das wie geplant erreichen, kommen wir nur voran, wenn wir auf den Ausbau der Windenergie setzen.“ So wird erwartet, dass die Windkraft eine zentrale Rolle bei der Produktion von grünem Wasserstoff einnehmen wird.
Immerhin gibt es nun auch wieder Rückenwind durch die Bundesregierung. Sie schnürte zu Ostern 2022 ein Energiesofortmaßnahmenpaket. Darin heißt es unter anderem: „Der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze wird beschleunigt, indem Hemmnisse abgebaut und Planungs- und Genehmigungsverfahren verschlankt werden.“ Das durch den Ukrainekrieg deutlich gewordene Bestreben, unabhängig von russischen Gas- und Öllieferungen zu werden, trägt zu den positiven Erwartungen bei. „Auch wenn wir diesen Schock wirklich nicht gebraucht hätten“, wie Zeschky einwendet.
Zuerst sind die Hausaufgaben dran
Darauf, dass es die Politik schon richten und die Weichen stellen wird, will sich der ENERCON-Chef allerdings nicht verlassen. „Zuerst müssen wir unsere Hausaufgaben machen und uns auf die neuen Bedingungen einstellen.“ Erste Schritte sind gemacht. Die Belegschaft, die an den Folgen
des Abwärtstrends mächtig zu knabbern hatte, ist wieder motiviert und hat die „Vertreibung aus dem Paradies“ – wie Zeschky das Ende der wirtschaftlich sehr erfolgreichen Zeit vor 2017 bezeichnet – verkraftet. Nun geht es darum, klare Ziele zu formulieren und sich an die Arbeit zu machen.
Nach baldigem Ruhestand, so viel ist klar, hört sich das nicht an.
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