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Tim Kruithoff

Tim Kruithoff, parteiloser Oberbürgermeister Emden

„Emden benötigt unbedingt noch mehr große Unternehmen.“

Tim Kruithoff hat etwas geschafft, was Generationen von Politikern nicht geglückt ist: Seit Anfang 2022 ist er erster parteiloser Oberbürgermeister von Emden – und Nachfolger von sechs Amtsinhabern, die alle der SPD angehörten. Der Mittvierziger will die Seehafenstadt mit neuen Ideen und frischen Impulsen in eine bessere Zukunft führen.

Der alte Binnenhafen in der Stadtmitte Emdens ist ein maritimes Erlebnis und bietet eine wunderbare Aussicht auf den Alten Ratsdelft.

63 Jahre sind in der Politik eine ungewöhnlich lange Zeit. Dass eine Partei eine Stadt über sechs Jahrzehnte ununterbrochen regiert, kommt äußerst selten vor. In Emden war das der Fall. Auf das 1956 zum Oberbürgermeister gewählte SPD-Mitglied Hans Susemihl folgten bis 2019 fünf weitere Genossen auf dem Chefsessel im Rathaus. Dann aber kam Tim Kruithoff. Bei der Wahl im November 2019 vereinte der parteilose Kandidat gleich im ersten Durchgang 75,4 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich. Ende einer Ära. Und womöglich der Beginn einer neuen? Kruithoff sagt schon jetzt: „Für eine zweite Amtszeit werde ich bereitstehen.“

Kruithoff, Jahrgang 1977, will den auch überregional stark beachteten Erdrutschsieg in der langjährigen Hochburg der Sozialdemokratie im Nachhinein nicht zu hoch hängen. Er kommentiert ihn mit eher lapidaren Worten: „Zeiten ändern sich, Stimmungen in der Bevölkerung ebenfalls – und irgendwann ist dann der Moment für eine Veränderung einfach da.“ Auch auf seinen Vorgänger Bernd Bornemann lässt er nichts kommen. Mit ihm habe es einen entspannten gleitenden Übergang gegeben. Kein Groll, kein Unmut. Einfach ein Wechsel auf dem Chefsessel im Rathaus, wie er in der Demokratie der Normalfall sein sollte.

Zudem sei in der Kommunalpolitik anders als auf Landes- oder Bundesebene die Suche nach gemeinsamen Lösungen entscheidend, fügt der gebürtige Emder an. Ideologische Fragen spielten eher eine untergeordnete Rolle. „Deshalb sollten wir alle das Parteibuch nicht überbewerten.“ Dass er selbst keiner politischen Vereinigung angehört, habe einen simplen Grund: „Es hat sich nichts ergeben und war aus meiner Sicht bislang auch nicht notwendig.“

Tim Kruithoff, parteiloser Oberbürgermeister Emden im Tagungssaal des Rathauses
Tim Kruithoff, parteiloser Oberbürgermeister Emden seit 1922

Wissen und Werte von der Großmutter

Lange Jahre deutete nichts auf eine politische Karriere Kruithoffs hin. Nach Abschluss der Realschule hatte er sich zunächst zum Groß- und Außenhandelskaufmann und anschließend zum Sparkassenkaufmann ausbilden lassen und nebenbei in der Abendschule die Fachhochschulreife erworben. „Mein Lebenslauf ist ein gutes Beispiel für die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems“, sagt er.

Der Sparkasse blieb Kruithoff in der Folge treu. Vom Kreditsachbearbeiter stieg er nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre und einem berufsbegleitenden Studium im Master-Studiengang „Management of Financial Institutions“ zum Prokuristen und Bereichsleiter auf. 2015 kehrte er als Leiter der Firmenkundenabteilung zurück zur Sparkasse Emden.

Der Gedanke, in die Politik zu gehen und dort etwas bewirken zu wollen, kam nicht von heute auf morgen auf. Vielmehr wuchs er langsam, aber beharrlich. Seine Großmutter habe ihn sehr geprägt, betont der Sohn einer Hausfrau und eines Elektrikers. Während der Nazizeit habe sie Lehrerin werden wollen, durfte das jedoch nicht. Also hat sie später dem jungen Tim Wissen und Werte fürs Leben vermittelt. Ihre wichtigste Botschaft: Drücke dich nicht vor Verantwortung!

Nach der Rückkehr von einem längeren Aufenthalt in den USA war es soweit. „Ich blickte plötzlich anders als zuvor auf Ostfriesland und dachte mir: Wir können mehr, Emden kann mehr.“ Klingt gut, aber was heißt das konkret? „Ich habe mir Emden als Unternehmen vorgestellt, das sich den Aufgaben der kommenden Jahre stellen muss. Was muss das Management dafür tun? Wie sollte es aufgestellt sein? Wo liegen die besten Chancen und die größten Risiken?“ Kruithoffs Schlussfolgerung aus dem Perspektivwechsel: Die Chancen überwiegen. Emden kann mehr.

Die Stadt Emden besser hinterlassen

Zum Amtsantritt gab Vater Kruithoff seinem Sohn mit auf den Weg: „Jetzt musst du zeigen, was du kannst.“ Tatsächlich bestätigen viele Politiker, die auf dem Chefposten landen, dass einen die Wirklichkeit schneller einholt als erhofft. Der Realitätsschock kann groß, behindernd und selbstverständlich auch ernüchternd sein. Vom Gestaltungsdrang bleibt dann nicht mehr viel.

Im Emder Rathaus wurden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Anfang 2020, also wenige Monate nach Kruithoffs Einzug, von der Corona-Pandemie erwischt. Eine Herausforderung, mit der kaum eine Stadt in Deutschland gerechnet hatte. Ausnahme: Emden! „Wir hatten bereits einen Plan vorliegen, was im Falle einer Pandemie zu tun ist“, atmet der Oberbürgermeister noch heute spürbar auf. Man merkt: Ihm liegt viel daran, gut vorbereitet zu sein und mögliche Eventualitäten bereits durchdacht zu haben. Schließlich sei die Demokratie eine keineswegs unkomplizierte Staatsform. Prozesse verliefen häufig langsam, gerade wenn die Bürgerinnen und Bürger daran teilhaben sollen. Das mache manchen mürbe.

Für Tim Kruithoff gilt das nicht, das wird im Gespräch schnell deutlich. Er ist ein Kämpfer, der offenbar ganz genau weiß, was er will. Was treibt ihn an, es mit zumindest zum Teil festgefahrenen Strukturen aufzunehmen und alte Verkrustungen aufzubrechen? Er wählt einen Satz, an dem er sich in Zukunft messen lassen muss: „Ich wünsche mir, die Stadt Emden besser zu hinterlassen, als ich sie vorgefunden habe.“

Akquisegespräche im Alten Rathaus

Gut, dann also mal Butter bei die Fische: Wo geht mehr? Jetzt ist Kruithoff in seinem Element, die Ideen sprudeln. Emden habe als Zentrum Ostfrieslands eine besondere soziale Verpflichtung. Rund 10.000 Menschen seien hier auf Hilfe angewiesen, kämen allein nur schwer zurecht. Um sie ausreichend unterstützen zu können, benötige es „viele starke Schultern“, unterstreicht er. Volkswagen als mit Abstand größter und wichtigster Arbeitgeber in der Stadt reiche dafür jedoch nicht aus. Das Werk bezeichnet Kruithoff als „wunderbares Filetstück unserer Wirtschaft“. Dennoch: „Wir benötigen unbedingt noch mehr große Unternehmen.“

Zulieferbetriebe für die Autoproduktion will er in die Seehafenstadt holen. „An genügend freien Gewerbeflächen für Ansiedlungen besteht kein Mangel.“ Daneben denkt er an weitere Unternehmen aus dem Bereich der Elektromobilität und der Energiewirtschaft, aus der aufstrebenden Wasserstoff-Branche und an Batteriehersteller. „Zurzeit findet in so vielen Bereichen ein Umdenken statt, dass die Stadt Emden mit all ihren Möglichkeiten davon profitieren wird.“

Tim Kruithoff möchte in der Emder Wirtschaft eine Aufbruchstimmung erzeugen und sie in Richtung Zukunftsorientierung lenken. Dafür gilt es gleichermaßen, die heimischen Betriebe zu stützen und neue für den Standort zu begeistern. Wenn Unternehmen aus anderen Regionen sich mit Anfragen ans Rathaus wenden, macht er deren Bearbeitung in der Regel zur Chefsache. Bevorzugt lädt er die Abgesandten dann ins Alte Rathaus am Delft ein. Das hinterlässt Eindruck. „Und wir haben noch mehr gute Argumente“, sagt er. Eine intakte Infrastruktur, die kurzen Wege einer kreisfreien Stadt, Lebensqualität und ein breit gefächertes Kulturangebot, eine aktive Wirtschaftsförderung.

Die Kunsthalle Emden ist ein Museum für Kunst der Moderne und Gegenwart. Es verfügt über 1500 eigene Bilder und präsentiert auch Wechselausstellungen.

Beziehungen zur Partnerstadt ausgesetzt

Dass ein Oberbürgermeister unverhofft auch als Krisenmanager gefragt sein kann, hat Tim Kruithoff Anfang 2022 erfahren. Der Ukraine-Krieg brachte Emden in die Bredouille, denn die Stadt pflegt seit mehr als 30 Jahren eine lebendige Partnerschaft mit der nordrussischen Hafenstadt Archangelsk. Als Verwaltungschef hatte Kruithoff zunächst dafür plädiert, die Beziehungen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Nach Beratungen mit den Fraktionen im Emder Stadtrat teilte er seinem russischen Amtskollegen dann aber doch mit, dass man alle Aktivitäten und Projekte sofort aussetzen werde.

Als „eine meiner schwersten Entscheidungen, die ich bisher treffen musste“, wertet der Mittvierziger diesen Stopp der Zusammenarbeit. Vor allem angesichts der Menschen, mit denen sich über die Jahre Freundschaften entwickelt hätten, sei das alles sehr bedauerlich – für einen Politiker vom Typ Kruithoff, der stets nach pragmatischen Lösungen sucht und nach dem Konsens strebt, ein beinahe unerträglicher Zustand. Aber manchmal stößt auch ein Oberbürgermeister an seine Grenzen.