„Wenn ich von etwas überzeugt bin, kann ich auch ein Dickkopf sein!“
Wer bezweifelt, dass in Deutschland sozialer Aufstieg möglich ist, sollte sich mit der Biografie Rico Mecklenburgs beschäftigen. Der Wahl-Emder hat es vom Dreher-Lehrling über die Zwischenstationen Flugzeugmechaniker, Lehrer, Rektor, Stadtrat und Bürgermeister zum Präsidenten der Ostfriesischen Landschaft gebracht.
Oberster Ostfriese? Rico Mecklenburg muss schmunzeln. „Ein Ehrentitel“, betont er. „Wenn das gesagt wird, macht mich das manchmal etwas verlegen, vor allem aber demütig.“ Seit November 2014 ist Mecklenburg Präsident der Ostfriesischen Landschaft, als Nachfolgerin der ostfriesischen Landstände einer der ältesten Regionalverbände in Deutschland.
Die Lebensgeschichte Rico Mecklenburgs beginnt allerdings in Oldenburg. 1949, nur wenige Monate vor Gründung der Bundesrepublik geboren, wächst der Sohn kriegsvertriebener Eltern unweit des Fliegerhorstes auf. Keine leichte Zeit, die Menschen leiden unter den Folgen der Katastrophe. Nur langsam nimmt das, was später Wirtschaftswunder genannt wird, Fahrt auf.
Rico besucht die nahegelegene Volksschule. „Ich lief da so mit, war eher ein mittelmäßiger Schüler, in einigen Fächern etwas besser.“ Die Lehrer seien ein bisschen merkwürdig gewesen, erinnert er sich: „Die meisten haben sich eher als Dompteure der Klasse verstanden, Lernen war da nur ein Nebeneffekt.“ Einer war anders, er ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Herr Hopp. „Der trug einen karierten Hut und warf ihn in seiner ersten Stunde mit Schwung auf den Garderobenhaken. Da hatte er bei uns gewonnen.“
Geschichtsunterricht bei der Gewerkschaft
Mit dem Hauptschulabschluss in der Tasche geht es hinaus ins Leben. Rico ergattert eine Lehrstelle als Dreher beim Elektrokonzern AEG, wo auch schon die Mutter arbeitet. Sein Interesse an Technik – „Wenn mein Fahrrad kaputt war, habe ich es immer selbst repariert“ – kommt ihm zugute. Schon bald darf er an die Maschinen.
Inzwischen hat er als gewähltes Mitglied der Betriebsjugendvertretung erste Bekanntschaft mit der IG Metall gemacht. „Diese Zeit hat mich stark geprägt“, betont er rückblickend, „vor allem, weil wir bei den Treffen der Gewerkschaftsjugend vieles von dem nachgeholt haben, was in der Schule nie Thema war“. Und eine kurze, flüchtige Begegnung bleibt ihm für immer im Gedächtnis: „Bei einer Kundgebung auf dem Oldenburger Pferdemarkt habe ich einmal direkt neben Willy Brandt gestanden.“
Während Ricos Lehrzeit sich dem Ende nähert, durchläuft Deutschland 1966/67 eine Rezession. Wie viele andere Unternehmen auch muss die AEG Personal abbauen. Keine Chance also für den jungen Facharbeiter, übernommen zu werden. Als Automatendreher fertigt er Lagerschilder für die Motoren von Waschmaschinen. Aber die Arbeit ist hart. Akkord ist normal, Schichtdienst ebenso, und auch am Wochenende müssen die Beschäftigten ran.
Die fehlende berufliche Perspektive führt dazu, dass Rico Mecklenburg sich in der Folge für vier Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet – trotz intensiver Gespräche über die Möglichkeiten der Kriegsdienstverweigerung bei der Gewerkschaftsjugend. Es geht zu den Heeresfliegern nach Rotenburg an der Wümme. Der Soldat mit dem Gespür für Technik wird zum Hubschraubermechaniker ausgebildet und landet nach Beendigung der Wehrzeit und einer Weiterbildung zum Flugzeugmechaniker bei den Vereinigten Flugtechnischen Werken in Varel.
Weg mit dem Mehltau der großen Koalition
So weit, so gut. Ein keineswegs untypischer Lebenslauf für junge Männer in den 1960er- und den beginnenden 1970er-Jahren. Doch Rico Mecklenburgs Werdegang erfährt eine Wendung. Zwei Tage nach seinem 23. Geburtstag tritt er im Januar 1972 in die SPD ein.
Es ist die Zeit der großen Reformbewegungen. Die jungen Menschen im Land wollen den Mehltau, der sich insbesondere während der Jahre der großen Koalition breit gemacht hatte, endlich entfernen. Eine Idee: Die Schülerinnen und Schüler sollen schon frühzeitig erfahren, wie es in der Arbeitswelt zugeht. Und so wird Rico Mecklenburg gefragt, ob er nicht von seinen Erfahrungen als Betriebsjugendvertreter berichten möchte. Er möchte. Und macht das so gut, dass ihn der Studiendirektor der Oldenburger Handelslehranstalten noch etwas fragt: „Willst du nicht Lehrer werden?“
Ein Lehrer, der nur über einen Hauptschulabschluss verfügt? Was lange undenkbar war, wird Anfang der 1970er möglich. Mecklenburg erwirbt auf dem zweiten Bildungsweg die nötige Hochschulzulassung und beginnt sein Lehramtsstudium in den Fächern Geschichte, Technisches Werken und Sozialkunde. 1976 kommt er als Lehrer an die Wallschule in Emden. Dem Bildungswesen bleibt er bis zum Eintritt in den Ruhestand 2014 erhalten. Zuletzt ist er über 20 Jahre als Rektor der Grund-, Haupt- und Realschule im Emder Ortsteil Wybelsum tätig.
Ein Dickkopf mit Harmoniebedürfnis
Aber Mecklenburg lässt auch nicht von der Politik. Ab 1991 sitzt er 25 Jahre lang für die SPD im Rat der Stadt Emden, wird dessen Vorsitzender und ehrenamtlicher Bürgermeister. Sein besonderes Interesse gilt Bildungsfragen – und da liegt er als Mann mit Prinzipien nicht immer auf der Linie seiner Partei. „Wenn ich von etwas überzeugt bin, kann ich auch ein Dickkopf sein.“ Sonst, so räumt er ein, lege er Wert auf eine gepflegte Streitkultur und durchaus auch auf Harmonie.
Berührungspunkte mit der Ostfriesischen Landschaft gibt es seit 2002. In jenem Jahr wird Mecklenburg Mitglied der Landschaftsversammlung. Dabei handelt es sich laut Satzung um „die demokratisch-parlamentarische Vertretung der ostfriesischen Bevölkerung“. Ihr gehören 49 ordentliche Mitglieder, sieben Landschaftsräte und der Landschaftspräsident an. Sie ist das wichtigste Entscheidungsgremium der Landschaft und tritt für gewöhnlich zweimal im Jahr zusammen.
Die Wurzeln der Ostfriesischen Landschaft reichen zurück bis ins frühe Mittelalter. Ostfriesland erstreckte sich damals von der Zuidersee in den heutigen Niederlanden bis an die Unterweser. Die Menschen waren frei und regierten sich mit Zustimmung von König und Reich selbst. 1464 sicherte Kaiser Friedrich III. ihnen urkundlich zu, dass alle Rechte und Freiheiten, die sie seit Vorzeiten besaßen und von seinen Vorgängern bestätigt bekommen hatten, auch weiterhin ihre Gültigkeit behalten sollten. Diese Versprechung gilt heute als Geburtsstunde der Ostfriesischen Landschaft. Sie hat sich über alle Irrungen und Wirrungen der Jahrhunderte als zentrale Institution der Region halten können.
Orientierung, Identifikation und Zukunft
Rico Mecklenburg wird 2014 als Nachfolger von Helmut Collmann zum sechsten Nachkriegspräsidenten der Landschaft gewählt, 2020 wird er für weitere sechs Jahre in seinem Amt bestätigt.
In seiner Antrittsrede ist viel von Traditionen die Rede, ebenso viel auch von Morgen und Übermorgen. Für Mecklenburg ist Ostfriesland kein Museum, sondern „eine moderne und zukunftsorientierte Region mit hoher Lebensqualität, einer beeindruckenden Historie und einer besonderen Baukultur“. Er hebt zudem die große Verbundenheit der hier lebenden Menschen mit ihrer Heimat hervor. „Die Menschen suchen, gerade in Zeiten der Globalisierung, vielen Unwägbarkeiten, Ängsten und großen Herausforderungen nach Orientierung, Halt und Gemeinschaft.”
Das Verbindende zum Wohle ganz Ostfrieslands in den Vordergrund zu stellen und die Ostfriesische Landschaft gewissermaßen als Sprachrohr der Region zur Wahrung der Belange der Bevölkerung und heimatlicher Interessen weiter zu stärken, sieht Mecklenburg als seine Hauptaufgaben an. Dabei spielen die drei Bereiche Kultur, Wissenschaft und Bildung die zentrale Rolle.
Aufnahme in die UNESCO-Liste
Dass das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur im April 2022 vorschlägt, die Ostfriesische Landschaft in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufzunehmen, passt dem längst in Emden heimisch gewordenen Mecklenburg gut ins Konzept. Die Institution stehe „für den konkreten Ausdruck eines Lebensgefühls in der Region Ostfriesland, der seinen Hintergrund in der noch heute gepflegten und gelebten kulturellen Tradition der Friesischen Freiheit hat“, heißt es im Antrag. Zugleich sei die Ostfriesische Landschaft „eine moderne Institution, die staatliche Aufgaben wahrnimmt und in der legitimen Rechtsnachfolge der historischen Landstände in der Tradition der Friesischen Freiheit“ stehe.
Der „oberste Ostfriese“ findet das gut und richtig. „Auf der UNESCO-Liste zu stehen, ist eine große Ehre“, sagt Rico Mecklenburg. „Und schon allein, dass unsere Aufnahme beantragt wird, zeigt die Wertschätzung, die wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben.“